Carsten Becker
Messbarkeit in Zeiten der Transparenz, von T. Branovic
Transparenz als ein Phänomen erlaubt uns eine ungehinderte Beobachtung, die Überblick und Kontrolle gewährt. Doch was wenn diese Kontrolle zu einem Optimierungswahn, Sucht- und Machtverhalten führt?
Messbarkeit in Zeiten der Transparenz
Tamara Branovic, 2017
Transparenz als ein Phänomen erlaubt uns eine ungehinderte Beobachtung, die Überblick und Kontrolle gewährt.¹ Doch was wenn diese Kontrolle zu einem Optimierungswahn, Sucht- und Machtverhalten führt?
Carsten Beckers multimediales Langzeitprojekt befasst sich mit genau jenem Mechanismus der absoluten Durchsichtigkeit und dem damit einhergehenden Steuerungspotential. Die zweiteilige Installation besteht aus mehreren Siebdruck-Tafeln „Activity Tableau“ und einer programmierten Grafik, genau genommen einer Website „Past nor Present”. Seit 2000 dokumentiert Carsten Becker seine täglichen Arbeitseinsätze als digitalen Datensatz. Die Ergebnisse aus einem Jahr werden basierend auf einer programmierten Vektorgrafik in ein Muster übertragen und mit einer dem Farbspektrum des Lichtes folgenden farblichen Zuordnung als Siebdruck visualisiert.
Activity Tableau
Ein Purpurmagenta als Initialfarbe für den Beginn seiner Arbeitsmessungen und -darstellungen lässt unterschiedlich große Punkte sich scheinbar willkürlich zu einem Raster vereinen. Der variierende Radius der Punkte repräsentiert jeweils den zeitlichen Arbeitsaufwand. Je größer der Punkt, desto länger der Arbeitstag. Jede farbfreie Fläche verweist auf arbeitsfreie Zeiten. Dabei können max. 7 vertikale und 53 horizontale Punktreihen die Komposition vervollständigen. Ein gleichmäßig komplettiertes Muster würde auf einen stetigen und regelmäßigen Arbeitsprozess hinweisen, der einem Tagesablauf eines Roboters oder einer Maschine gleichen müsste. Gerade die Leerstellen der ersten Tafel, die ein stark fragmentiertes Bild entstehen lassen, ließen Becker im Laufe der Jahre sein eigenes Arbeitsethos hinterfragen. Immer dichter reihen sich die expandierenden Punkte nebeneinander und zeugen von intensiven Produktivitätsphasen, die ganz dem Prinzip eines kapitalistisch ausgebildeten Systems entsprechen könnten. Die Genese des Kapitalismus geht nach dem Soziologen Max Weber mit der disziplinierenden Arbeitsethik des aufkommenden Protestantismus einher. Luthers Reformation kann somit als entscheidende Geburtsstunde unserer Leistungsgesellschaft betrachtet werden und der damit einhergehenden ökonomischen Entwicklung.²
Becker geht es vor allem um diese Messbarkeit der menschlichen Aktivitäten, die einen immensen Marktwert darstellen und einen entscheidenden Wirtschaftsfaktor bilden, der durch die Evaluationsergebnisse digitaler Datensätze das Konsumverhalten zu dirigieren versteht. Digitaler Exhibitionismus – die Zurschaustellung unseres Lebens – vereinfacht in ihrer Transparenz den Zugang, die Applikation und Steuerung unseres Verhaltens. Wie ein Fingerabdruck offenbart sich ein Muster seines Arbeitseinsatzes – doch nur er hat einen emotionalen Zugang zu dem Abbild seiner Arbeitsmoral. Jedes Jahr, jedes Bild eröffnet sich dem Künstler wie ein Tagebuch. Für den Betrachter bleibt es ein Rätsel, ein Code, der letztlich nur aus einer ethischen und ästhetischen Herangehensweise betrachtet und beurteilt werden kann.
Past nor Present
Die programmierte Grafik verknüpft sowohl die analogen als binären Auswertungen seiner Arbeit. In hybrider Form wird Vergangenes als gegenwärtig erfahrbar. Der Träger Bildschirm wird analog zu den Siebdruck-Tafeln im Hochformat positioniert und gibt den pulsierenden Rhythmus Beckers Leistung wieder. Punkt für Punkt wird das Muster in der Einzeldarstellung rezipiert. Ein dumpfer Ton läuft synchron in seiner Lautstärke mit dem Radius der runden Fläche. Der Takt seiner Arbeit wird hörbar wie ein Herzschlag durch ein Stethoskop, doch weit von der Monotonie einer regelmäßig funktionierenden Pumpe. Würde die optische Umsetzung aussetzten, könnte man den Ton als solchen wahrnehmen, aber kein System bzw. Muster darin erkennen. Die willkürliche Abfolge ist mit einem experimentellen „Techno-Beat“ elektronischer Musik vergleichbar.
In der einheitlichen Rezeption reizen sowohl Klang als auch eine farb- und größenvariierende Form die Sinne. Die tonfreien Stellen sind Zeiten der Stille, der Freizeit, die einen ohne weitere Kontrolle in einen Zustand der Entspannung oder auch Leere führen. Die im übertragen Sinne von Becker als positiv empfundenen freien und visuell nicht erfahrbaren Momente, erzeugen eine Erwartungshaltung in der Annahme etwas müsste geschehen, ergo es müsste „gearbeitet“ werden.
Rhythmus Téchne
Der Blick auf die Gesellschaft läuft zunehmend seit Mitte des 20. Jahrhunderts Mittels des „Gestell Technik“.³ Aus einer Warte der Dialektik lässt sich kein einheitliches Urteil fällen. Becker geht es auch weniger um die Realisierung einer vorgefertigten Meinung. Vielmehr greift er genau jene immanente Ambivalenz auf, die nach dem Zweck und nach dem Einfluss unserer aktuellen Entwicklung und ihrer Transparenz, nach dem „Rhythmus Téchne“ fragt. Der technische Fortschritt, die Digitalisierung lässt Grenzen ineinander überfließen und in Form der téchne beeinflusst sie unsere Empfindungen.
Bewusst transformiert Becker seine persönlichen Daten in ein bekanntes farbliches Spektrum – dem universell bekannten Farbverlauf eines Regenbogens. Zunächst positiv assoziiert, verbirgt sich jedoch hinter dem codierten System jene paradoxe Botschaft: ästhetisch ansprechend und gleichzeitig gefährlich nutzbar. Etwas zunächst als dekorativ Wahrgenommenes, kann zu einem bedrohlichen Symbol der sukzessiven Kontrolle und Macht werden.⁴
Der Wunsch ein bestimmtes Muster unserer Aktivitäten zu konstruieren, führt sowohl bei Carsten Becker als auch allgemein in der Gesellschaft zu einer Art Optimierungszwang unserer individuellen Präsenz. Auch wird dieser „neurotische“ Leistungsdruck von gewissen Rollenbildern vorgelebt, die sich insbesondere durch die stetige Selbstvermarktung, dem sog. „Branding Phänomen“, über diverse „Social Media Kanäle“ etabliert haben. Auf diese Weise leistet die Gesellschaft permanent, sei es durch die Ausübung einer beruflichen oder auch privaten Tätigkeit. Freiwillig exploitiert sie sich selbst.⁵ Daraus resultiert ein ausgeartetes Suchtverhalten, das nach immerwährendem Einsatz verlangt und neuen „Materialwert“ darstellt.⁶
¹ Der Begriff „Panoptikum“ wird bei Chul-Han als Beschreibung der Struktur der heutigen Kontrollgesellschaft genutzt. Vgl. Chul-Han, Byung: Transparenzgesellschaft. Berlin 2012
² Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1904]. Hamburg 2015
³ Vgl. Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik, in: Hermann, F.W. (Hrsg.): Gesamtausgabe. I Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Vorträge und Aufsätze, Bd. 7, Frankfurt am Main 2000, S. 5-36
⁴ Carsten Becker bezieht sich hier auf das verspielt bunte Google Symbol, hinter dem ein Unternehmen tätig ist, über einen der größten Datenspeicher verfügt und zur Kommerzialisierung genutzt wird. Vgl. auch Chul-Han, Byung: Transparenzgesellschaft. Berlin 2012
⁵ Vgl. Chul-Han, Byung: Transparenzgesellschaft. Berlin 2012
⁶ Der Begriff „Menschenmaterial“ geht auf den militärischen Einsatz von Menschen zurück, deren Dienst und somit ihr Leben als reines Mittel zum Zweck eingesetzt wurde. Gleichzeitig auch zur Kapitalvermehrung bzw. im wirtschaftlichen System des Kapitalismus. Vgl. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie [1867]., Hamburg 2014;
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