Carsten Becker
Show Norm
Norm
Carsten Becker
Galerie Konstanze Wolter, Theaterstr. 58, Chemnitz
7. Feb. – 26. März 2022
Normen stehen für Ordnung und Klarheit. Die Wirklichkeit ist, wie so oft, komplexer. Der Berliner Künstler Carsten Becker legt in seiner seriellen Werkgruppe DIN (2019–2022) die politischen, militärischen und emotionalen Implikationen normierter Gebrauchsgegenstände offen.
22. Dezember 1917: Auf Initiative des Königlichen Fabrikationsbüros für Artillerie wird in Berlin der Normenausschuss der deutschen Industrie gegründet. Nicht nur die Wirtschaft sollte prosperieren, im vierten Kriegsjahr waren die deutschen Streitkräfte wichtigster Kunde dieser effizienzsteigernden Einrichtung.
In DIN stellt Carsten Becker die für militärische und wirtschaftliche Zwecke entwickelten Normteile in den Mittelpunkt seines konzeptuellen Arbeitens. In Makroaufnahmen lenkt Becker unsere Blicke auf die klaren Formen dieser massenhaft produzierten Einzelteile. Mit dem Medium der Fotografie transferiert Becker das Objekt in die scheinbare Unendlichkeit eines weißen Raums. Auf diese Weise ihrem Gebrauchskontext enthoben, treten die Konturen, Wölbungen, Schwingungen, Rillen, Linien und Ecken der Objekte hervor. Als industrielle objets trouvés zeigen die archetypischen Flaschen in Vichyform die Eleganz ihrer aufstrebenden Form. Sie verbergen hingegen, dass sie 1942 normiert und benannt wurden – zu einer Zeit also, als die Nationalsozialisten die französische Normungsanstalt AFNOR und die Marionettenregierung des General Pétain den Quellwasserkurort Vichy kontrollierten. Andere, wie die geschwungene Schwenkscheibe und der glatte Kugelknopf, strahlen in ihrer abstrakten Unkenntlichkeit eine erhabene Ruhe aus.
Zu diesem Eindruck trägt Beckers Farbpalette bei; durch sie macht er die massenhaft reproduzierten Gebrauchsgegenstände zu Unikaten. Als Alltagsgegenstände nun nicht mehr nutzbar, diffundieren sie durch Beckers Bearbeitung in die Sphäre der Kunst. Ihre matten Farben absorbieren das Licht, so dass die gestochen scharfen Umrisslinien sie flach erscheinen lassen. In der Binnenform lenken die Farben den Blick jedoch auf die dreidimensionalen Verschattungen und Lichtpunkte dieser Alltagsskulpturen.
Becker lackierte die Stellvertreter dieser Universalformen mit Tönen aus der deutschen Farbsammlung RAL, die nach dem 1925 gegründeten Reichsausschuss für Lieferbedingungen benannt ist. Sie verzeichnet bis heute Farbtöne, die von den deutschen Behörden und dem Militär genutzt werden. Obwohl angelegt auf unendliche Reproduktion, waren einige dieser RAL-Farben endlich: So wurden RAL 4000, das Violett des Luxuszuges „Rheingold“ auf Beckers Einheitsglas, und Dunkelgelb, die zur Tarnung gegen Infrarot-Nachtsichtgeräte genutzte Farbe des abgelichteten Kugelknopfs, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Farbregister gestrichen.
In seinem Werk sucht Carsten Becker die militärischen Materialschlachten des Zweiten Weltkrieges, die auch in seiner Familie Narben hinterlassen haben, durch ihre stummen Mittäter zu begreifen. In der Perfektion seiner Fotografien und in der Schönheit des effizienten Materialeinsatzes fördert Becker einen beklemmenden Unterbau zu Tage. Seine Arbeiten legen die Verstrickungen des modernistischen Formdiskurses mit dem Grauen des Holocaust offen, sie zeigen die Verflechtungen der Farbenlehre mit dem menschenverachtenden Regime des Nationalsozialismus. Bei Carsten Becker sind Formen und Farben nicht universell und unpolitisch, sondern Bestandteile der visuellen, sozialen und politischen Rhizome, die im Alltag des 21. Jahrhunderts beispielsweise als „Vichyform“ wieder ans Licht treten.
Anika Reineke
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