Carsten Becker
Show Trauma through Time
Trauma through Time
Fatamorgana Galerie, Torstr. 170, Berlin / 19. April 2019
Künstler Carsten Becker im Gespräch mit der Neurowissenschaftlerin Ina Filla PhD über transgenerationelles Trauma und seine fotografische Serie Agfacolor.
Artist Carsten Becker in conversation with neuroscientist Ina Filla PhD about transgenerational trauma and his photographic series Agfacolor.
Carsten Becker: Ich habe dich auf einer Party gefragt, ob es stimmt, dass der Holocoust in der DNA nachgewiesen werden kann, auch noch in der dritten Generation. Deine Reaktion war eindeutig?
Ina Filla: Ja tatsächlich, die Holocaust-Forschung geht davon aus, dass alle Juden Europas, unabhängig davon, wie sie den Holocaust überlebt haben, von dem Trauma der Verfolgung betroffen sind. Und Traumata können, wie wir mittlerweile wissen, durch verschiedene Wege an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Zum Beispiel durch Epigenetik, durch Sozialisierung oder auch durch die Bindung zwischen Mutter und Kind. Das heißt, dass die traumatischen Erfahrungen unserer Groß- und Urgroßeltern unter Umständen auf uns, auf unsere Generation, Auswirkungen hat.
C.B.: Könntest Du nochmal erklären, was ein psychologisches Trauma ist?
I.F.: In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation, dem ICD-10, wird ein traumatisches Erlebnis beschrieben als ein derart belastendes und bedrohliches Ereignis, dass es unsere individuellen Bewältigungsmöglichkeiten bei weitem übersteigt und das mit Gefühlen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt. Die bisher bekannten Regeln von der Welt wurden aus den Angeln gehoben, kurz oder langanhaltend. Das kann passieren durch einen schweren Unfall oder eine Naturkatastrophe. Oder wenn man Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen wird.
C.B.: Wie funktioniert die Traumaübertragung in der Epigenetik?
I.F.: Erinnerungen an sich können nicht vererbt werden. Es ist also nicht möglich, dass sich die inneren Bilder von den Kriegserlebnissen der Großmutter beispielsweise auf die Enkelin übertragen. Es ist aber möglich, dass intensive Stresserlebnisse molekular auf das Kind übertragen werden. Und das nennt man dann transgenerationale Epigenetik. Diese Art der Traumaübertragung hat man beispielsweise an Mäusen untersucht. Die Forscherin Isabell Mansuy von der ETH Zürich hat dazu Mäusejungen direkt nach der Geburt von ihren Müttern getrennt, was für die jungen Mäuse ein traumatisches Erlebnis darstellt. Dieser Schock führt später im Leben zu Depressionen oder unsozialem Verhalten. Ein Verhalten also, was man bei den Mäusen beobachten und messen kann.
Um sicherzustellen, dass die Traumaübertragung nicht durch das Fehlverhalten der traumatisierten Eltern geschieht, denn ein Trauma kann auch durch ein anderes Bindungsverhalten oder eine andere Sozialisierung weitergegeben werden, zeugten die Wissenschaftler ihre Mäuse durch künstliche Befruchtung. Unbelastete Leihmütter brachten die Mäuse zur Welt und zogen sie groß. Dennoch litten die Tiere an den Folgen des Traumas ihrer genetischen Eltern, Großeltern oder sogar Urgroßeltern. Damit stand fest: die Vererbung des Traumas erfolgte auf biologischem Weg über die Eizellen oder Samenzellen bis in die dritte Generation. Als möglicher Überträger gilt die Ribonukleinsäure, kurz RNA. Dieses Biomolekül ist ähnlich aufgebaut wie die Erbsubstanz DNA, verändert sich allerdings durch Umwelt, Lebensstil oder eben traumatische Erlebnisse. Ein weiterer möglicher Mechanismus für die transgenerationale epigenetische Übertragung ist die Methylierung der Erbsubstanz DNA. Dabei steuern kleine chemische Anhängsel, sogenannte Methylgruppen, ob ein Gen abgelesen und somit aktiv wird oder nicht.
C.B.: Was bedeutet Epigenetik?
I.F.: Epigenetik selbst bezieht sich auf die mittlerweile sehr gut untersuchte Einflussnahme der Umwelt auf die Gene. Mein Lieblingsbeispiel hierfür ist das Sockentragen von kleinen Kindern. Tragen Kleinkinder bis drei Jahre immer Socken, dann verändert sich ein Gen, das für die Temperaturempfindlichkeit zuständig ist und diese Kinder werden dann zu Frostbeulen, durch die Umwelt bedingt. Bei meiner kleinen Tochter ist es genau andersherum. Sie war der klassische Fall des Sockenverweigerers und ihr ist trotz nackter Füße auf Steinboden im tiefsten Berliner Winter eigentlich nie kalt.
C.B.: Vielleicht kann man sagen, dass es Trauma aus Kriegszeiten auch auf der Täterseite gibt. Stellt sich das Trauma auf der Ebene der Epigenetik für Opfer- und Täterseite unterschiedlich dar?
I.F.: Jeder Krieg zieht ja unweigerlich Traumatisierung mit sich, was man aber sagen kann, ist dass vor allem für die Opfer des Holocaust etwas Bestimmtes systematisch oder kennzeichnend war. Und das war die systematische Vernichtung der eigenen Identität, der Persönlichkeit und der Individualität als Mensch, und zwar, wie wir heute wissen, herbeigeführt durch die Entmenschlichung in den Konzentrationslagern. Der italienische Schriftsteller Primo Levi, selbst Auschwitz-Überlebender, wies auf die unterschiedlichen Ebenen der Vernichtung hin. Er sagte oder schrieb: dieser Vorgang der Entmenschlichung in dem man den Menschen ihre Identität, ihre Gewohnheiten, ihre Kleidung und buchstäblich alles nimmt, lässt einen die zweifache Bedeutung des Wortes Vernichtungslager verstehen. Der Vorgang der Entmenschlichung gipfelte, wie wir heute wissen, in der Eintätowierung von Nummern in die Haut von Menschen, die in diesem Augenblick ihren Namen verlieren sollten. Die Folgen des Traumas, das Identitätsverlustes, zeigen sich unter anderem in der Selbsteinschätzung Überlebender, in Sätzen wie “Ich bin jetzt ein anderer Mensch” oder noch allumfassender “Ich bin kein Mensch”.
C.B.: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Leute der Thematik ablehnend gegenüberstehen. Wie passt das aus Deiner Sicht mit der Zahl zusammen, die Du mir geschickt hast, dass nämlich 60% der Kinder aus dem Zweiten Weltkrieg traumatisiert sind und dass diese Traumata zum Teil an nachfolgende Generationen weitervererbt wurden?
I.F.: Ja, das ist eine sehr gute Frage. Zwei Aspekte erscheinen mir in diesem Kontext zumindest erwähnenswert. Zum einen muss man sagen, dass die transgenerationale Epigenetik, also die genetische Übertragung von Traumata über die Generationen hinweg, für den Menschen immer noch nicht eindeutig bewiesen werden konnte, weil es extrem schwierig ist, epigenetische von genetischer Vererbung zu trennen und die epigenetische Vererbung auch von Umweltfaktoren und von kultureller Prägung zu differenzieren. Das heißt, dies wird immer noch in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Zum anderen sind Traumata an sich ein schwieriges Thema. Selbst der genaue Vorgang und Kontext eines Traumas, das wir selbst erlebt haben, ist uns oft nicht zugänglich, weil das Trauma abgespalten wird. Viele Aspekte bleiben, sofern es nicht aufgearbeitet wird, im Unterbewusstsein verborgen. Stell dir mal vor, wie es dann um die Vorstellung bestellt ist, Traumata vererbt zu bekommen, die wir noch nicht einmal selbst erlebt haben. Ich glaube, es ist erstens sehr schwer vorstellbar und wenn man sich doch darauf gedanklich einlässt, im besten Fall angstbesetzt, weil sich unweigerlich die Frage aufdrängt, wie um alles in der Welt ein Traumata aufgelöst werden soll, was noch nicht mal in meinem eigenen Unterbewusstsein schlummert, sondern vielmehr im Unterbewusstsein meiner Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern. Denn es sind interessanterweise gerade die unausgesprochenen Traumata, die also, die im Unterbewusstsein verbleiben, die sich am Belastendsten auf die nachfolgenden Generationen auswirken können.
Ina Filla PhD ist Neurowissenschaftlerin und Psychologin.
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