Carsten Becker
Widersprüchliche Schönheit, Carsten Beckers Serie Agfacolor, von Philipp Hindahl
Wenn wir uns Fotos als Kommunikation vorstellen, dann sprechen die meisten von ihnen mit verstellter Stimme. Einige so offensichtlich, dass es uns absurd erscheint, wie man darauf hereinfallen kann. Andere weniger deutlich, weshalb Propagandabilder aus dem Zweiten Weltkrieg lange als Dokumente benutzt wurden — in Bildbänden und in Fernsehdokumentationen findet man sie mitunter noch heute.
Widersprüchliche Schönheit
Philipp Hindahl, Nov. 2019
Wenn wir uns Fotos als Kommunikation vorstellen, dann sprechen die meisten von ihnen mit verstellter Stimme. Einige so offensichtlich, dass es uns absurd erscheint, wie man darauf hereinfallen kann. Andere weniger deutlich, weshalb Propagandabilder aus dem Zweiten Weltkrieg lange als Dokumente benutzt wurden — in Bildbänden und in Fernsehdokumentationen findet man sie mitunter noch heute.
Carsten Becker zeigt in seiner Reihe "Agfacolor" Momente, in denen Fotografien ihre Stimme nicht verstellen können. Es sind Ausschnitte aus Farbfotos deutscher Propagandasoldaten, die der Künstler in Archiven findet. Er wählt Details, und die Vergrößerung verleiht den Alterungsspuren, Farbstichen und Kratzern des Filmmaterials eine ästhetische Qualität, die sich der Kontrolle des ursprünglichen Fotografen entzieht.
Ein Mythos über die Fotografie hält sich hartnäckig — sie sei ein Abdruck der Welt, und das Lichtbild sei der Wirklichkeit nahe. Jahrzehntelang hat die Kunstwissenschaft daran gearbeitet, diesen Mythos zu entkräften: gegen Eigentlichkeit, für Konstruiertheit. Zwischen den Weltkriegen amalgamierten sich Kino, Magazine und Zeitungen zu einer neuen Medienlandschaft. Fragen nach dem erkenntnistheoretischen Charakter von Fotografie waren nicht mehr nur ästhetische Spekulation, und sie verließen den Bereich von Kunstkritik und Akademie.
Im Jahr 1936 erschien Walter Benjamins Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit". Der Text endet mit einem Nachwort: Der Faschismus inszeniere den Krieg als ästhetisches Spektakel, schreibt Benjamin, und vom Krieg erwarte die neue Ideologie "die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung."¹ Der Bereich des Ästhetischen wurde aufgerüstet.
Während die Kriegsvorbereitungen begannen, legten die Nationalsozialisten auch Richtlinien für die Propaganda im Krieg fest.² Fortan gab es sogenannte Propagandakompanien, Einheiten, die für eine regimekonforme Berichterstattung sorgen sollten. Ihr Material wurde zu Wochenschauen zusammengeschnitten, Fotografien und Frontberichte kamen in die Tageszeitungen.³ Gewehr und Munition, Kamera und Filmpatrone — die Militarisierung der Gesellschaft ging einher mit der Militarisierung der massenhaften Bildproduktion.⁴
Nicht viele Farbfotos aus jener Zeit sind im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik geblieben, mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel die Aufnahmen von Hitler am Obersalzberg, fotografiert von Walter Frentz, der seine Karriere als Kameramann für die Regisseurin Leni Riefenstahl begann. Dabei gab es schon lange Farbfilmverfahren. Das Kino experimentierte bereits vor dem Ersten Weltkrieg damit, aber erst Ende der 30er kommen Farbfilme in die deutschen Kinos: als eskapistisches Vergnügen für die Deutschen und als Leistungsschau fürs Ausland.⁵
Aber was ist mit der direkten Propaganda? Die schnelle Berichterstattung konnte zu Beginn des Kriegs nur mit schwarz-weiß-Material geleistet werden. Dann, 1941, bestellte Walter Frentz bei Agfa einige hundert Meter Farbfilm, und es gab erste Farbaufnahmen in Nordafrika und vor Leningrad.⁶
Schon zuvor gab es Farbfotos der "Kriegsberichter". Farbfotografie im Kleinbildformat für den Massenmarkt ist zu jener Zeit aber noch eine recht junge Entwicklung. Mitte der 30er kam in den USA Kodakchrome auf den Markt, und Agfa produzierte Farbfilme für die deutschen Verbraucher.
Einige Aufnahmen, aus denen Becker Ausschnitte nimmt, sind seltsam unbestimmt, sie wirken vertraut, wie alte Urlaubsaufnahmen. Sie zeigen idyllische Landschaften, ein Landser pinkelt in den Straßengraben, der Filmberichter Horst Grund sitzt am Schreibtisch auf einer Wiese. Es sind Schnappschüsse der Kriegsreporter mit den neuen Agfacolor-Filmen, mit all den Zufällen, die in der offiziellen Propaganda nicht zugelassen waren.
Ausgehend von diesen Aufnahmen arbeitet Becker das Moment heraus, für das Roland Barthes den Begriff punctum⁷ geprägt hat. Das punctum steht im Gegensatz zum studium, der konzentrierten Lektüre der Fotografie. Anders das punctum: Es fesselt den Betrachter augenblicklich. Es ist viel weniger domestiziert und unterwirft sich nicht den Regeln der disziplinierten Bildanalyse. Es lässt eine unbewusste Dimension zutage treten, indem es über das Foto hinauszuweisen scheint.⁸
Das können in Beckers Arbeiten Farbfehler durch Alterung des Filmmaterials, Kratzer auf den Diapositiven, Archivstaub oder Verformungen des Films sein, die zufällig entstanden sind und sich der Lesbarkeit widersetzen. So ruft die Farbe eines Sonnenuntergangs sofort vertraut scheinende, aber schwer erklärbare Wehmut hervor, ein Bauernhof irgendwo auf der Krim bekommt erstaunlicherweise die Qualität von Malerei. Ihr Gespenst spukt noch durch manche Fotos, und es wird durch die erneute Kadrierung sichtbar. Die Bilder haben einen unheimlichen Beigeschmack. Man weiß, sie stammen aus dem Krieg, und sie sind Marginalien von begangenen Gräueltaten. Und man kann nicht vergessen, was außerhalb des Rahmens liegt: Mord, Zwangsarbeit, die Front.
Das Interesse in Beckers Arbeiten ist kein rein ästhetisches, auch ist eine zweifache Unschärfe eingebaut. Die zugrundeliegenden Schnappschüsse weichen zum einen meist von der strengen Inszenierung der offiziellen Propagandabilder ab. Zum anderen ist seine Komposition selbst subjektiv, wenn er einen Ausschnitt wählt.
Becker ist aufgewachsen mit den Kriegserzählungen der Großeltern, die noch stark geprägt waren von der Propaganda. In seinen Arbeiten macht er Stellen sichtbar, an denen die Wahrheit der Fotografie sich Bahn bricht. Es ist keine Narration, wie sie sich in der offiziellen, heroischen Version findet. Auch sind es nicht die massenhaft produzierten Kompositionen, die der NS-Propaganda ihre Gleichförmigkeit verleihen. Die widersprüchliche Schönheit, die Kontingenz, die Alterungsprozesse des Materials — all das verleiht Beckers Bildern ihre Singularität.
Philipp Hindahl ist Kunsthistoriker und Autor, er lebt in Berlin.
¹ Walter Benjamin, "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1977 (1963), S. 7-44, hier S. 44.
² Vgl. Daniel Uziel, "Propaganda, Kriegsberichterstattung und die Wehrmacht", in: Judith Prokaski, Rainer Rother (Hg.), Die Kamera als Waffe. Propagandabilder des Zweiten Weltkriegs, München 2010, S. 13-38, hier S. 15ff.
³ Zitiert nach: Uziel, S. 26.
⁴ Vg. ebd., S. 22; vgl. auch Miriam Y. Arani, "Wie Feindbilder gemacht wurden. Zur visuellen Konstruktion von 'Feinden' am Beispiel der Fotografien der Propagandakompanien aus Bromberg 1939 und Warschau 1941", in Judith Prokaski, Rainer Rother (Hg.), Die Kamera als Waffe. Propagandabilder des Zweiten Weltkriegs, München 2010, S. 150-163.
⁵ Vgl. Dirk Alt, "Farbe als Waffe. Der Farbfilm als Mittel der deutschen Kriegsberichterstattung 1941-1945", in: Judith Prokaski, Rainer Rother (Hg.), Die Kamera als Waffe. Propagandabilder des Zweiten Weltkriegs, München 2010, S. 96-105, hier S. 96.
⁶ Vgl. ebd., S. 97ff.
⁷ Vgl. dazu: Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989 (1980), S. 53ff.
⁸ Vgl. ebd., S. 60ff.
Series/Serie
Agfacolor
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