Carsten Becker
Die vergessenen Farben, von P. Hindahl
Gebrauchsgegenstände haben ihre Farben nicht einfach so, sie sind an Standards angeglichen. In Deutschland gilt seit 1927 der RAL-Standard, eine Farbsammlung, die auf Anforderungen von Behörden, Militär und Industrie reagiert. Der Künstler Carsten Becker befasst sich in seiner Arbeit mit den Leerstellen und Kontinuitäten dieser Sammlung. Sie leistet eine mikrokosmische Abbildung deutscher Geschichte.
Vergessene Farben
Philipp Hindahl, 2018
Bäume in Polen, Schnee vor Stalingrad, die Wüste in Nordafrika haben alle ihre eigene Farbe. Ihre Schattierungen und Töne ändern sich nicht, wahrscheinlich auch nicht über Jahrzehnte oder Jahrhunderte, aber das kollektive Gedächtnis der Nachgeborenen erinnert die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs fast ausschließlich in Schwarz-Weiß. Wenn wir Farbaufnahmen aus dem Krieg sehen, stellt sich ein seltsamer Effekt ein. Sie wirken beinahe zu real, als wäre dem Dokument, dem Foto, dem Film etwas hinzugefügt, wie eine unzulässige Steigerung des Realismus. Es gibt aber auch die Farben, die verloren oder vergessen sind. Tarnfarben, standardisierte Farben, industriell hergestellte Lacke. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Beinahe ließe sich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand von Farben und Lacken erzählen.
Eine der Angstvorstellungen der Moderne ist die Normierung aller Lebensbereiche. Zugleich ist sie ein Versprechen, denn alles soll überall in gleichbleibender Qualität reproduzierbar sein. Sobald Gebrauchsobjekte industriell gefertigt werden müssen Normen her. Das gilt auch für die Farben, in denen Gebrauchsgüter lackiert, gestrichen und gefärbt werden. 1925 wurde der Reichsausschuss für Lieferbedingungen gegründet, der Vorliebe jener Zeit für Akronyme folgend kurz RAL genannt, eine gemeinsame Initiative der Privatwirtschaft und der Staatsorgane. Der RAL definierte zwei Jahre später vierzig Standardfarben.
RAL ist kein Klassifikationssystem wie der Pantone-Regenbogen, sondern eine Farbsammlung, und sie wird bis heute benutzt. Es sind die Leerstellen, die Carsten Becker in seiner Arbeit faszinieren. Denn kaum etwas ist beredter als das Verschwiegene und Verschwundene. Becker benutzt beispielsweise Panzergrau, Sandgrau und Dunkelgelb, um Triptycha herzustellen. Eingehende Beschäftigung mit den RAL-Farben zeigt auch, dass sich bei vermeintlich gleichen Farbtönen subtile Veränderungen ergeben.
1932 wurde eine aktualisierte Fassung der RAL-Farbsammlung veröffentlicht. Der Farbstandard gilt für die Industrie, die Eisenbahn und das Militär. Nicht nur staatliche Körperschaften — wie die Reichsbahn — gehören zu den Abnehmern der Farbsammlung, sondern auch eine Partei: die NSDAP. Die Idee von Einheitlichkeit ist keine Erfindung der Nazis, passt aber ausgezeichnet in die faschistische Kulturpolitik. Unter den Nationalsozialisten werden Normen zur Pflicht, und die Formen und Farben der Gebrauchsgüter werden politisch.
Beckers Triptycha erzählen eine Geschichte, aber in abstrakter Art: Sie sind monochrome Tafeln von RAL-Farben, meist thematisch verknüpft. Zum Beispiel die Lackierung des Jagdflugzeugs Messerschmitt BF 109: von unten lichtblau, um gegen den Himmel getarnt zu sein, von oben Grüngrau, um vor dem Boden zu verschwinden. Die Nase des Jagdflugzeugs ist Gelb — die auffällige Farbe dient der Freund-Feind-Erkennung. Diese drei Töne ergeben ein Triptychon.
Oder die drei Farben der Reichsbahn. Violett für die Luxuswaggons, Feuerrot für Räder und Rotbraun für die Güterwaggons. RAL 8012, die Lackierung der Güterwagen legt Zeugnis ab von der Shoa, denn in den so lackierten Waggons wurden Menschen in die Konzentrationslager deportiert. Noch heute steht ein solcher Waggon in der Holocaust- Gedenkstätte Yad Vashem.
Die Geschichte von RAL endet nicht mit dem Zweiten Weltkrieg. Farben wurden umbenannt oder einfach aus der Sammlung gestrichen. Die Entnazifizierung der Nachkriegsjahre sollte auch in der symbolischen Welt der Farbnormen stattfinden.
Viele Farben sind eingewoben ins kulturelle Gedächtnis. Das Leitmedium Fernsehen archiviert die frühen 1970er in Farbe, zum Beispiel die Jagd auf die Terroristen der RAF. Als Andreas Baader 1972 in Frankfurt verhaftet wird, tragen die Polizisten tannengrüne Uniformen. Nachgeborene kennen die Polizei in Minzgrün, ab 2004 wurden Uniformen und Fahrzeuge verkehrsblau.
Die Tarnanstriche der Bundeswehr heißen Teerschwarz, Lederbraun oder Bronzegrün. Die Farben bekommen Namen, die an eine vorindustrielle Welt erinnern. Die Telefone FeTAp 611 — Fernsprechtischapparate — der Bundespost sind in den 1960ern aus kieselgrauem ABS-Kunststoff. Seit 1986 ist die Deutsche Post ginstergelb. Nur der Name Telemagenta, seit 1992 fest im Design der Telekom, gehört ganz ins beginnende Zeitalter der vernetzten Kommunikation.
Farben zur Tarnung, zur Erkennung, als einheitliches Design: Allein damit lässt sich eine Geschichte über das corporate design des deutschen Faschismus erzählen. Die Geschichte der Bundesrepublik wird von RAL-Farben begleitet. Wie ein Mikrokosmos enthält die Farbsammlung ein Abbild der historischen Ereignisse im Kleinen.
Philipp Hindahl ist Kunsthistoriker und Autor, er lebt in Berlin.
Serial/Serie
RAL
Show/Ausstellung
RAL, Frontviews, Berlin, 2018
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